Siam - Anomalie
Ätiologie
Mit Albinismus werden schon lange Zeit Veränderungen des Sehorgans in Verbindung gebracht. 115 Bei der Siamkatze kommt eine Form des partiellen Albinismus mit retinaler Hypopigmentierung vor. 608 Infolge dessen zeigen die Tiere reduzierte okuläre Pigmentierung von Iris, Choroid und iridalem bzw. retinalem Pigmentepithel. 579 Zuerst beschrieb Guillery im Jahr 1969 das Vorkommen abnormer retinogenikularer Projektionen bei Siamkatzen. 217
Siamesen sind Träger einer temperaturabhängigen Variante des Albino- Gens, welches nur an den kühlsten Körperstellen, den Pfoten, Ohrspitzen und dem Skrotum, Pigmentierung ermöglicht. 365 Dieses Gen kodiert auch das Enzym Tyrosinase. 161,425,632,636 Die Tyrosinase ist für die Pigmentbildung in der Iris und dem okulären Pigmentepithel entscheidend. 365
Bei Katzen, die das Enzym Thyrosinase nicht bilden können, bewirkt die retinale Hypopigmentierung einen veränderten, fehlerhaften Verlauf einiger retinaler Projektionen auf ihrem Weg zum Gehirn, bestimmt die Art des Projektionsfehlers sowie auch die entwicklungsbedingten Konsequenzen der Übertragung der falschen retinalen Inputs zur visuellen Kortex. 290 325,500
Die visuelle Kortex der betroffenen Katzen empfängt weniger Signale der ipsilateralen Retina als bei anderen Katzen, weil viele Axone der temporalen (äußeren) Netzhaut, welche normalerweise ipsilateral bleiben, nach kontralateral kreuzen und dort widersprüchliche Signale an die Sehrinde senden. 608 Genauer, es kreuzen zusätzlich auch die Fasern mit Projektionen der temporalen zwanzig Grad eines Auges auf die kontralaterale Seite. 221
Die Mutation bewirkt so einen veränderten Verlauf von Nervenfasern zwischen Retina und dem lateralen Kniehöcker (Corpus geniculatum laterale) durch eine veränderte Nervenfaserkreuzung im Chiasma optikum. 217 (LINK Anatomie)
Die Neurone der temporalen Retina verlaufen zwar zum korrekten Punkt im lateralen Kniehöcker, jedoch durch die überflüssige Kreuzung im Chiasma opticum zum falschen Kniehöcker. 218
Da die gelieferten Projektionen vom falschen Auge stammen, ergeben sie widersprüchliche Informationen. 285 Das visuelle Feld wird unterbrochen durch einen invertierten Bereich. 220
Der Großteil der abnorm kreuzenden retinogenicularen Neurone ist funktionell nicht mit der visuellen Kortex verbunden, sodass die unsinnige Information ignoriert wird und ein Gesichtsfeld entsteht, welches zwar eine normale Größe hat, aber hauptsächlich monokular wahrgenommen wird. 365
Unter den betroffenen Katzen sind zwei verschiedene Typen bekannt. 528 Kaas und Guillery 291 entdeckten den „Midwestern“ Typ und Hubel und Wiesel 271 beschrieben den „Boston“ Typ. Der Unterschied liegt in der Physiologie der Sehrinde des Gehirns 271,291 und in Details im Aufbau der lateralen Kniehöcker 528.
Bei den zum „Midwestern“-Typ gehörenden Siamesen werden topographisch normal über den retinogenicularen Verlauf transportierte Projektionen beibehalten und abnormer Input auf dem Niveau der Sehrinde unterdrückt. 528
Diese Annahme lässt sich belegen, da die Katzen auf visuelle Stimuli im Bereich der temporalen Retina nicht reagieren. Sobald ein Auge geschlossen ist, kommt es jedoch zu normalen Reaktionen auf visuelle Reize dieses Bereichs. Der Visusverlust der temporalen Retina ist demnach zurückzuführen auf widersprüchliche Projektionen, die an der Sehrinde von beiden Augen ankommen. 219
Im „Boston“ Typ geschieht eine erstaunliche Reorganisation. Die im „Midwestern“ Typ nicht zur visuellen Kortex geleiteten Projektionen werden hier in einem separaten Bereich der Sehrinde verarbeitet. 271 Die Katzen erhalten auf kortikalem Niveau ein zusammenhängendes Bild ihres gesamten visuellen Felds, indem die Informationen des ipsilateralen temporalen Bereiches zwischen die normal transportierten kontralateralen Projektionen eingefügt werden. 365

Symptome und Diagnose
Siamkatzen haben eine blaue Irisfarbe und eine typische Fellzeichnung. 557 Sie sind, bedingt durch die beschriebene Mutation, nicht zu binokulärem Sehen (Stereopsie) fähig. 291 Aus der abnormen visuellen Empfindung und dem Bestreben des Gehirns ein vollständiges visuelles Feld zu erschaffen, resultiert Esotropie (konvergenter Strabismus/ Innenschielen), welche im dritten Lebensmonat manifest wird. 285 Außerdem tritt regelmäßig Nystagmus auf, der vermutlich ebenfalls aufgrund von widersprüchlichen zum Mesencephalon gelangenden Informationen entsteht. 551 Der Nystagmus kann rotierend oder horizontal sein. 51,479
Der Ausprägungsgrad der Anomalie variiert zwischen den Individuen, jedoch ist keine Siamkatze zu binokulärem Sehen in der Lage. 291,303
Therapie
Keine.
Von einer chirurgischen Korrektur des Strabismus wird abgeraten, da das Problem dadurch nicht gelöst werden kann. 551